Der Rennsteiglauf. DIE Laufbewegung durch den Thüringer Wald. Wir schreiben das Jahr 2015. Das Jahr, in dem ich mich offensichtlich mit dem Rennsteig-Virus infizierte. Jung und unerfahren malte ich mir damals schließlich die Reise von Eisenach nach Schmiedefeld so blumig aus, dass ich dabei nahezu vergaß, mich im Vorfeld mit dem "Großen Inselsberg" oder auch dem finalen Aufstieg auf den "Großen Beerberg" zu beschäftigen. Die konnten doch unmöglich so viel anders sein als unser "Großer Bunkerberg" im Berliner Friedrichshain. Klangen ja sogar schon ähnlich. Während ich damals noch gut unter acht Stunden ins Ziel kam, ließ ich dennoch nicht die Möglichkeit aus, im darauffolgenden Jahr den selben Fehler noch einmal zu machen. Nur, dass ich dieses Mal gleich ganz auf adäquates Training zur Vorbereitung auf den Supermarathon verzichtete. Doch zu meinem großen Glück besitzt der Mensch kein Schmerzgedächtnis (meine Uhr stoppte ich im Ziel auf jeden Fall deutlich nach acht Stunden). So blieb es also ganz einfach bei einer kreativen Rennsteigpause, die ich mir im Jahre 2017 gönnte. Allerdings nur, um das darauffolgende Jahr mit Sack und Pack nach Thüringen zurückzukehren. Denn der letzte Kloß war noch lange nicht gegessen. Mit etwas mehr Training in den Beinen konnte ich zumindest meine Bestzeit verbessern und näherte mich zumindest den, für mich, magischen 07:30:00 h. Spätestens an jenem Samstag im Mai nahm meine Obsession schließlich seinen Lauf und nach Sofortmeldung im Schmiedefelder Zielbereich, stand ich also heuer da: dem Schneewalzer lauschend, an der schönsten Startlinie der Welt - in Eisenach.
Ankomme Freitag, den 18.
Jedes Jahr auf's Neue findet man sich Freitag Nachmittag am Marktplatz Eisenach wieder, um endlich die langersehnte Startnummer in den Händen halten zu dürfen. Wer es sich außerdem zutraut, vor einem Wettkampf die Speicher mit Klößen und Rotkohl aufzufüllen, findet unter vielen Gleichgesinnten bestimmt noch ein Plätzchen im Festzelt oder unter freiem Thüringer Himmel. Ich für meinen Teil musste mich allerdings im letzten Jahr schon sehr zusammenreißen, nach extra großer Portion Rotkohl am Vortag, nicht schon auf den ersten Höhenmetern den Thüringer Wald zu besudeln. Seitdem jedenfalls erspare ich mir vor jedem längeren Lauf alles, was mir in irgendeiner Form auf den Magen schlagen könnte.
So schnell, wie dieser Freitag auf unserem Radar erschienen ist, zieht er allerdings auch schon wieder ins Land. Es bleibt höchstens noch etwas Zeit am Ende des Tages übrig, um Vorbereitungen zu treffen, so stressfrei wie nur irgend möglich, in den nächsten Morgen zu starten. Die Nacht sollte nämlich schon kurz genug werden.
Morning has broken
Den großen Vorteil, den ich darin sehe, direkt im Startort zu nächtigen, ist die fußläufige Erreichbarkeit des Marktplatzes, von wo aus sich Samstag Morgen pünktlich um 6 Uhr fast 2.500 erfahrene Ultraläufer, genauso wie Ersttäter, auf den hügeligen Weg von Eisenach in das wohl schönste Ziel der Welt aufmachen - nach Schmiedefeld. Außerdem bieten einige Hotels auf Läufer abgestimmte Frühstückszeiten an, um nicht gleich mit schlechter Laune in den Tag starten zu müssen. Mein Start in den Tag sah jedoch so aus, dass ich nach der ersten Nahrungsaufnahme bei dem Versuch, mit dem Fahrstuhl in unsere Etage zu gelangen, den Zimmerschlüssel fallen ließ und meine schlaftrunkenen Augen noch einen letzten Blick auf selbigen erhaschen konnten, bevor er sich in den ewig dunklen Fahrstuhlschacht verabschiedete. Für Ersatz war zwar in Sekundenschnelle gesorgt, mein Morgen aber war jetzt vorerst definitiv versaut. Vielleicht reißt es ja noch die Veranstaltung raus, für die ich eigens aus Berlin nach Thüringen gereist bin - der 47. Gutsmuths-Rennsteiglauf.
"Oberschenkel Du brennen lassen musst, keine Zeit zu verlieren haben"
Wenn ein Hubschrauber über dem Marktplatz Eisenach seine Runden zieht, kann es eigentlich nur eines bedeuten: Das Warten hat ein Ende. Heute ist Renntag. 73,9 allerfeinste Kilometer über den Rennsteig vom schönen Eisenach nach Schmiedefeld. Das Rennsteiglied ertönt, denn wir wandern ja so gerne. Die Minuten verstreichen. 'Den Schnee-, Schnee-, Schnee-, Schneewalzer tanzen wir.' Es wird geschunkelt und noch einmal nervös an der Uhr gedreht. Ist es wirklich schon so spät? The final countdown und... LOS!
Nach meinen Erfahrungen aus den Jahren zuvor und den fehlenden Körnern zum Ende hin, musste ich mich dieses Jahr in jedem Falle neu erfinden. So konnte das nie und nimmer weitergehen, mit mir und dem Rennsteig. Denn ob am Ende eine persönliche Bestzeit herausspringt oder nicht, wird immer noch auf den ersten 25 Kilometern entschieden, bei dem man einen Höhenunterschied von 700 Metern bewältigen muss, was für einen Flachland-Berliner wie mich schon enorm ist. Deshalb sah meine Taktik schlicht und ergreifend vor, es vorerst einfach laufen zu lassen. Spannung halten beim Anstieg und locker beim Abstieg. Nur nichts riskieren. Als ich mein Rennen in mühevoller Heimarbeit plante, errechnete ich mir dabei die Splitzeiten für die Fabelzeit von rund 7 Stunden. Jetzt... dort draußen im Thüringer Wald schien meine Rechnung sogar aufzugehen. Die nächsten Verpflegungsstation kamen, die ersten Verpflegungsstationen gingen. Sobald man "Glasbachwiese" bei Kilometer 18 schließlich hinter sich gelassen hat, kann man sich, meines Erachtens, auf die schönste Teilstrecke des gesamten Rennsteiglaufs freuen. Denn nur kurze Zeit später findet man sich auf einem von Wurzelwerk gesäumten Pfad wieder, der nur so vor Trailspaß trotzt. Jedoch unter ständiger Beachtung der Trail-Weisheit eines gewissen Meister-Yoda: "Oberschenkel Du brennen lassen musst, keine Zeit zu verlieren haben!"
Wer es es ohne Anzeichen von Selbstverstümmelung schließlich wieder aus dem dunklen Wald herausgeschafft hat und man noch nicht genug hat, darf sich jetzt wenigstens noch auf den langersehnten Aufstieg auf den 'Großen Inselsberg' freuen, der bereits sehnsüchtig darauf wartet, manch einen Läufer mit Übermut in seine Schranken zu weisen. Oben angekommen, mit noch ordentlich Fett uff der Kett, wartet der kurze, knackige Abstieg in Richtung 'Grenzwiese'. Für mich eines der Highlights der Verpflegungsstationen, da genau hier der erste Treffpunkt meiner Begleiter und mir entlang der Strecke war. Gut in der Zeit nahm ich mir allerdings auch selbige, um gut versorgt in die nächste Etappe Richtung 'Grenzadler' zu starten.
Niemand hat die Absicht, mit Zeitmessung auszusteigen
Das zweite Drittel des Rennsteiglaufs war ich einfach versucht, mein Rennen zu laufen. Holte etwas Zeit heraus. Verlor wieder etwas Zeit. Ein ständiges Hin und Her. Ich könnte mir zwar jetzt etwas aus den Fingern saugen, aber sowas richtig spektakuläres blieb irgendwie aus. Gut, die Strecke war toll. Das Wetter hatte uns auch nicht enttäuscht. Achso, und die vielen Helfer waren ebenfalls nicht zu verachten. Aber sonst??? Eigentlich fiebert man ständig nur dem nächsten Etappenziel, dem Grenzadler, entgegen, der es einem ermöglicht, das Rennen bei Kilometer 54,7 mit Zeitmessung zu beenden und die weiße Fahne zu schwenken. Doch möchte man denn wirklich die frische, Thüringer Landluft gegen stickige, vom Schweiß geschwängerte Luft tauschen, die einen erwartet, wenn man nach Abbruch den Kleinbus nach Schmiedefeld besteigt? No Way.
Ich jedenfalls nutzte das Wiedersehen mit meinen Begleitern dazu, mich meines Oberteils zu entledigen (zur freudigen Anteilnahme der Thüringer Bevölkerung), die Speicher neu zu befüllen und all den unnötigen Ballast abzuwerfen, der mich die letzten knapp 55 Kilometer begleitet hat. Dann lasset die Spiele mal beginnen.
Die letzte Etappe war angebrochen. Keinen Halbmarathon mehr. Nur noch eine kleine unbedeutende Nummer namens 'Großer Beerberg' und die Lorbeeren können geerntet werden. Wenn man dann noch auf die ersten Wanderer trifft, spätestens dann heißt es, Haltung annehmen und so tun, als ob die vergangenen knapp 60 km keinerlei Spuren hinterlassen haben. Das Problem ist nur, dass einem die wandernden Jungs und Mädels bis auf den letzten Kilometer kaum mehr von der Seite weichen. Es ändern sich allenfalls mal die Gesichter. Einfach freundlich grüßen, sich für die Anfeuerung bedanken und den Schmerz weglächeln. Und wenn ihr ganz leise seid, könnt ihr vielleicht sogar schon das Ziel hören, das sich irgendwo dort hinter der letzten Baumkrone befindet. Sobald man einen Fuß nach Schmiedefeld gesetzt hat, gilt es noch einmal, Obacht walten zu lassen, da sich von nun an die bereits erwähnten Wanderer, Spaziergänger, Läufer und solche, die es werden wollen, den letzten schmalen Pfad hinunter ins Ziel teilen müssen. Vorsicht ist da besser als Nachsicht. Und mit einem lauten Organ kann man sich immer noch am besten Gehör verschaffen.
Der finale Zieleinlauf wurde schließlich durch eine kleine Gruppe Pompon schwingender Cheerleader eingeläutet, die den Blick freigaben auf die letzten Meter Rennsteig-Gaudi. Sollte es das etwa schon gewesen sein? Mein Blick auf die Uhr besagte zwar an dieser Stelle das Verfehlen meines Zeitziels von sieben Stunden, doch eine eindeutige Verbesserung meiner persönlichen Bestzeit von sage und schreibe vierundzwanzig Minuten. Nach exakt 7 Stunden 7 Minuten und 57 Sekunden fand ich mich nach meiner ganz persönlichen 73,9 Kilometer langen Reise in Schmiedefeld wieder - im schönsten Ziel der Welt. Und ich habe wahrlich schon viele Ziele gesehen.
Kleine Raupe Nimmersatt
Die Medaille des 47. Rennsteiglaufs um den Hals, der Schweiß noch nicht ganz trocken, sah ich es als meine läuferische Pflicht an, von dem Angebot der Sofortmeldung im Zielbereich erneut Gebrauch zu machen. Denn noch ist die Zeit der Rennsteig-Rente nicht gekommen. Das geht noch besser. Oder schlechter. Egal, auf jeden Fall geht es noch einmal. Oder wie das Rödelheim Hartreim Projekt zu rappen pflegte: "Höha, schnella und weita."
Es war mir wieder mal ein Vergnügen, Teil dieser fantastisch organisierten Veranstaltung gewesen zu sein. Auch wenn ich es wieder einmal versäumt habe, etwas von Eurem über die Landesgrenze hinaus berühmten Schleims zu kosten. Doch glaubt mir bitte, wenn ich Euch sage, dass das wahrscheinlich besser für uns beide war.
Sodele... dann sag ich wohl mal bis nächstes Jahr. Das lässt sich jetzt nicht mehr vermeiden. Ob ihr wollt oder nicht. Irgendwann im Läuferleben muss eine Tradition schließlich ihren Lauf nehmen.
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