Sonntag, 21. Juli 2019

Das war ja wohl der Gipfel!

Den Anfang machte, soweit sich mein sauerstoffgeschwängertes Gehirn noch daran entsinnen kann, einer dieser seltenen Instagram-Momente. War es eine Fotocollage, ein Zusammenschnitt in bewegten Bildern des letzten Jahres oder gar ein plumper Werbebeitrag, der das zehnjährige Bestehen des Brixen Dolomiten Marathon für den 06. Juli 2019 ankündigte?

Was es genau war, kann ich leider nicht mehr mit Gewissheit sagen. Ich weiß nur noch eines: Das was die da hatten, wollte ich auch - Running to the Limits.

Von Berlin nach Brixen

Nur zur Erinnerung: Dort wo ich herkomme, gibt es keine Berge. Manchmal nennen wir sie vielleicht Berge, denn dann kommen wir uns irgendwie noch kosmopolitischer vor, aber... nope. Keine Berge. Aller Wahrscheinlichkeit nach würde der Südtiroler von nebenan beim Anblick unserer "Berge" die beiden Adjektive niedlich und süß sogar in einem Satz verbauen. Und warum? Weil er es eben kann.

Die höchste Erhebung Berlins, mit niedlichen 114,8 m.
Was bin ich aber wöchentlich diesen niedlichen Bunkerberg im Volkspark Friedrichshain hochgeflitzt und wieder runtergetrabt. Und wieder hochgeflitzt und wieder runtergetrabt. Immer und immer wieder. Manchmal waren es am Ende 500 Höhenmeter im Aufstieg; wenn ich gut drauf war, auch gut und gerne mal das Doppelte. Je näher der Marathon schließlich kam, desto öfter verschlug es mich mit meinem Laufkumpel Tom noch in die Müggelberge, zur höchsten natürlichen Erhebung Berlins. Es wurde viel geschwitzt und gelitten. Es tat weh und das zurecht. Würde dieser Aufwand allerdings ausreichen, um von Brixen (im idyllischen Südtirol gelegen) auf deren Hausberg, die Plose, zu laufen? Wahrscheinlich war mir beim Finden einer passenden Antwort noch nie so unsicher zu Mute.

Mit anderen Worten: ich hatte die Hosen gestrichen voll.

Akklimatisieren auf dem Blütenlauf

Die Trainingstage kamen, die Trainingstage gingen. Und mit ihnen die Zeit, die zwischen mir und dem Berg lag. Unter meine Vorfreude mischten sich langsam aber sicher vereinzelt Zweifel, ob das denn alles richtig so war? Doch ich einen Rückzieher machen? No Way.

Der Blütenlauf in Elvas.
Dann endlich: Abflug Berlin - Ankunft Bergamo. Die Sonne brennt. Gute vier Tage noch bis zum Wettkampf. Ausreichend Zeit, um sich zu akklimatisieren. Mit dem Mietwagen nach Elvas, oberhalb von Brixen gelegen, unsere Unterkunft für die nächsten fünf Tage beziehen. Shake-Out Run am Morgen, erste Höhenluft schnuppern auf dem 12,9 km langen Blütenlauf; ein Laufparadies vorbei an Obstwiesen, durch das Raier Moos, den Mooswald und die Dörfer Natz, Viums und Raas. Und weil es so schön war, schreite der nächste Morgen regelrecht nach einer noch schnelleren Wiederholung. Das Gewissen war somit für's Erste zufrieden gestellt. Ich war also bereit für 42,195 km vom Domplatz in Brixen auf den Gipfel der Plose. Die Hosen waren zwar immer noch voll, doch war endlich die Zeit gekommen, den Ballast abzuwerfen.

Der Tag vor dem Tag

05. Juli 2019: Domplatz zu Brixen, Vorwettkampf-Stimmung im Schatten des Doms.

Warum bis Samstag warten, wenn man das ganze Drumherum auch einen Tag früher genießen kann? Man setzt schonmal einen Fuß durch das Starttor - Wettkampfluft schnuppern. Lässt sich im Vorbeigehen noch einen Sleepy (ein seltsam anmutendes Stofftier, Gattung Bär mit Schlafmütze) andrehen; für die Chance, eine ultramoderne und alles in den Schatten stellende Matratze zu gewinnen, mit der der Schlaf noch tiefer wird und Schäfchen zählen am Ende so '80s' ist.

Man verfolgte mit großen, leuchtenden Augen das geschäftige Treiben der Volunteers, die in den letzten Zügen noch einmal alles gaben, sodass am nächsten Morgen die knapp 500 Marathonis ohne Probleme auf ihre Reise geschickt werden können. (Ganz nebenbei: Während ich bereits von meiner neuen Matratze träumte, starteten in der Nacht von Freitag auf Samstag bereits die Ultraläufer über den 81-km-Ultra.)

Um das Erlebnis jedoch noch abzurunden, war es nun endlich an der Zeit für die Ausgabe der Startnummer, die ich immer so früh wie möglich in den Händen halten muss. Ist wahrscheinlich so ein dämliches Ritual, dass das Läuferdasein so mit sich bringt. Ohne fühlt man sich kraftlos und verloren. Doch mit... lasset die Spiele beginnen. Dann noch DIESE Startnummer - 23!!! Ich sage nur: Illuminaten, Verschwörungstheorien und nichts ist, wie es scheint. Da hat wohl irgendwer meinen morgigen Weg bereits vorherbestimmt. Was sollte jetzt noch schief gehen, wenn man schon das Schicksal auf seiner Seite hat? Aber ob es sich mit mir am Ende auch auf den Gipfel quält, sollte ich erst am nächsten Tag erfahren.

Running to the limits

06. Juli 2019, 07:30 Uhr: Start des 10. Brixen Dolomiten Marathon



So groß die Nervosität im Vorfeld vielleicht auch gewesen sein mag; sobald der Startschuss gefallen war, befand man sich schlicht und ergreifend auf der Strecke und machte das, was man am besten konnte - einen Fuß vor den anderen setzen. Kein Hexenwerk. Über Jahre geübt. Manchmal gescheitert, doch nie aufgegeben. Der heutige Tag sollte bestimmt nicht die Ausnahme von der Regel werden.

Die Temperaturen vor dem Start waren bereits wohlig warm und spätestens zur Mittagszeit sollte dann auch die 30° C - Marke erreicht werden. Was für den einen Fluch, ist für den anderen Segen. Denn das war genau mein Wetterchen. Trotz Gewitterwarnung am Nachmittag sollte mich der stete Sonnenschein bis zum Erreichen der Ziellinie keinesfalls im Stich lassen.

Nachdem man kurz nach dem Start noch eine kleine Runde der Verabschiedung durch Brixen drehen durfte, dabei das Glück besaß, den mitgereisten Anhang noch einmal zu sehen, bevor man sich für die nächsten Stunden auf seinen einsamen Trail zurückzog, wurden die Zuschauer entlang der Strecke schon langsam eine seltenere Spezies. Die ersten Anstiege ließen dann auch nicht mehr lange auf sich warten und nur erahnen, worauf man sich da an jenem Samstag im Juli eingelassen hatte.

Das erste große Highlight (wenn ich mir die Freiheit nehmen darf, so weit nach vorne zu preschen) erwartete mich schließlich bereits nach 11,4 km an der Seilbahn-Station St. Andrä,  wo meine Frau und Doro, eine mitgereiste Freundin aus Berlin, auf mich warteten und ich mich, um eine gute Figur abzugeben, mit geschwellter Brust auf die nächste Etappe vorbereitete, während meine Begleiter nur kurze Zeit später die Gondel nach Kreuztal, am Fuße der Plose gelegen, bestiegen und keine halbe Stunde später unterhalb des Gipfels ihr wartendes Dasein fristeten. Wir sollten uns auf jeden Fall wiedersehen. Ich geh' dann mal zu Fuß.

Lauf Junge Lauf

Als unerfahrener Bergläufer, der ich nun einmal war bzw. immer noch bin, habe ich mir eine ganz besondere Taktik in meinem kleinen verstaubten Hinterstübchen überlegt. Einfach das machen, was die anderen machen. Nur ein bißchen mehr davon. Wenn offensichtlich gestandene Trailläufer das Gehen vorziehen, werde ich mich keinesfalls dagegenstellen und einfach mitmachen. Bergab wird gerollt. Beine ausschütteln für die nächsten Passagen gen Himmel. Denn leider oder Gott sei Dank hatte ich keinen blassen Schimmer, was mich bis zum Ziel auf der Strecke noch alles erwarten wird.

Der Kurs war nämlich extrem anspruchsvoll, forderte meine gesamte Aufmerksamkeit. Zu Beginn hatte man noch leichtes Spiel mit vielen Asphaltpassagen, die irgendwann zu weichen, doch gut zu
laufenden Waldwegen wurden. Im weiteren Verlauf begegneten uns Läufern jedoch die ersten schmalen Pfade, die ich so aus Berlin eher weniger kannte. Ausgeprägtes Wurzelwerk im ständigen Wechsel mit Gestein jeglicher Größe. Manches Mal auch eine Kombination aus beidem. Rechts der Berg, links der Abhang. Was ich auf keinen Fall riskieren wollte, war nämlich der Einsatz der Bergrettung, die einen verirrten Berliner von einem Baumwipfel in Südtirol herunterholen mussten. Sobald ich nur ansatzweise feststellte, dass meine Konzentration nachließ und damit eine Verletzung riskierte oder eine Blamage - ich sage nur Baumwipfel -, schaltete ich einen Gang zurück und genoss für einen Moment dieses unglaubliche Bergpanorama, das sich einem von dort oben bot und wofür man ansonsten, voll konzentriert, einfach keinen Blick erübrigen konnte. Den geistigen Akku also wieder voll geladen, bahnte man sich eben Kilometer um Kilometer seinen Weg immer weiter Richtung Ziel, das noch so unendlich weit entfernt zu sein schien.

Nachdem somit der erste längere alpine Steig bis Kilometer 30 überstanden war, habe ich mich glatt bei dem Gedanken ertappt, dass es das jetzt gewesen sei und ich das Rennen nur noch nach Hause schaukeln muss. Denn die nächsten Kilometer luden nicht nur mich zum Tempo machen ein, da auf den nächsten drei Kilometern uns der Weg knapp 200 Meter abwärts zur Seilbahnstation Kreuztal führte. Dort angekommen wurde ich nun von meiner Frau bereits sehnsüchtig erwartet und gebührend empfangen, holte mir die letzte Motivationsspritze ab und dachte: das Schlimmste sei überstanden. Wie jung und naiv ich doch war. Denn erstens kommt es anders, zweitens als man denkt!

Dieser Weg wird kein leichter sein...

Kaum das scheinbar letzte Fünkchen Zivilisation mit dem Verpflegungsposten 'Kreuztal' hinter sich gelassen, schien wohl für die Veranstalter die Zeit gekommen, endlich den Südtiroler Überraschungs-Hasen aus dem Hut zu zaubern. Keine neun Kilometer mehr zu bewältigen und dann das. Der nächste
hochalpine Steig, nur eben dieses Mal etwas steiler und, meines Erachtens, etwas technischer. Vielleicht täuschte mich aber auch der Eindruck und ich war einfach schon zu matschig im Hirn. Und sollte mich irgendwann einmal jemand fragen, wann mich schlussendlich der Mann mit dem Hammer  wie den Nagel auf den Kopf traf, weiß ich zu sagen, dass er irgendwie immer an meiner Seite mitlief und mit zittrigen Händen nur darauf lauerte, mir den Rest zu geben. Freundlicherweise sollte mich dieser Moment jedoch erst gute drei Kilometer vor dem Ziel ereilen. Denn plötzlich hieß es, noch einmal die letzten 400 Höhenmeter bezwingen. Laufen konnte man das aber nun wirklich nicht mehr nennen und kann schwer in Worte fassen, wie es sich anfühlt, in weiter Ferne stecknadelkopfgroße Mitstreiter auszumachen, mit dem bewussten Gedanken, dass das Spiel scheinbar verlängert wurde und nicht, wie erhofft, in wenigen Minuten beendet sein wird.

Die Oberschenkel brennen. Der Weg ist das Ziel. Die Zeit mittlerweile vollkommen egal. Nur noch den Typen mir der Kuhglocke passieren. Dann noch ein Stückchen weiter. Bald hört man, zwar noch sehr leise, aber deutlich, die Stimmen aus dem Zielbereich. Zunehmend lauter und noch deutlicher dringen sie an dein Ohr und dann... Beine ausschütteln bis ins Ziel an der Plosehütte. Unglaublich... soll es das jetzt etwa gewesen sein? Ich kann das Ende irgendwie immer noch nicht ganz fassen, als ich nach 05:14:40 h, als 54. in der Gesamtwertung, meinen leicht lädierten Kadaver schließlich über die erlösende Ziellinie hievte. Ich durfte aufhören zu laufen. Einfach so und ohne doppelten Boden. Die Bergretter blieben heute, zumindest wegen mir, ohne Einsatz.

Meine Leistung? Fand ich gar nicht so übel für einen Flachland-Tiroler aus Berlin. Da scheint Potential da zu sein. Vielleicht aber war es auch einfach nur das Glück... des Tüchtigen. Sind unsere Berge wahrscheinlich doch nicht so übel wie anfangs verteufelt. Doch dieses Panorama!!! Mit so etwas können wir natürlich nicht dienen. Dazu noch dieses Kaiserwetter. Unglaublich. Die nächste halbe Stunde saß ich einfach dort, starrte auf die Berge und freute mich des Lebens, im Hier und Jetzt zu sein und endlich nicht mehr laufen zu müssen. Diesen einen langen Moment der Ruhe kann einem keiner mehr nehmen und vielleicht ist ja genau dort die Idee entstanden, irgendwann einmal nach Brixen zurückzukehren zu diesem ganz speziellen Wochenende im Juli.

Das Beste kommt zum Schluss

Dass der Brixen Dolomiten Marathon eine wahre Perle des Trailrunnings ist, hat mir die zehnte Ausgabe eindrucksvoll bewiesen. Daran hege ich keinerlei Zweifel mehr. Es bleibt mir eigentlich nur noch DANKE zu sagen. All jenen, die die Veranstaltung 2019 zu dem gemacht haben, was es für mich war. Eine harte Nummer mit Herz. Als erstes fallen mir da die vielen, vielen Helfer an den Verpflegungsstationen ein, die immer da waren, wenn man sie am nötigsten brauchte. Ganz speziellen Dank an den südtiroler Wettergott, dass er uns an diesem Wochenende mit dem schönsten Sonnenschein gesegnet hat, den die Welt je gesehen hat. Last but not least möchte ich nicht die Veranstalter vergessen, die schließlich irgendwann einmal auf die Idee kamen, diesen Wettkampf ins Leben zu rufen, in dem man nicht nur gegen den Berg, sondern vor allem gegen sich selbst antritt. Es war mir eine große Ehre, den Trail mit Euch allen zu teilen und hoffe, ihr haltet mir immer schön ein Plätzchen an der Startlinie für mich frei, für den Fall, dass man mich mal wieder in meine Grenzen verweisen muss. Pures Vergnügen oder einfach nur Running to the limits. 













Sonntag, 26. Mai 2019

Der große Inselsberg ruft!

Eine Tradition nimmt ihren Lauf

Der Rennsteiglauf. DIE Laufbewegung durch den Thüringer Wald. Wir schreiben das Jahr 2015. Das Jahr, in dem ich mich offensichtlich mit dem Rennsteig-Virus infizierte. Jung und unerfahren malte ich mir damals schließlich die Reise von Eisenach nach Schmiedefeld so blumig aus, dass ich dabei nahezu vergaß, mich im Vorfeld mit dem "Großen Inselsberg" oder auch dem finalen Aufstieg auf den "Großen Beerberg" zu beschäftigen. Die konnten doch unmöglich so viel anders sein als unser "Großer Bunkerberg" im Berliner Friedrichshain. Klangen ja sogar schon ähnlich. Während ich damals noch gut unter acht Stunden ins Ziel kam, ließ ich dennoch nicht die Möglichkeit aus, im darauffolgenden Jahr den selben Fehler noch einmal zu machen. Nur, dass ich dieses Mal gleich ganz auf adäquates Training zur Vorbereitung auf den Supermarathon verzichtete. Doch zu meinem großen Glück besitzt der Mensch kein Schmerzgedächtnis (meine Uhr stoppte ich im Ziel auf jeden Fall deutlich nach acht Stunden). So blieb es also ganz einfach bei einer kreativen Rennsteigpause, die ich mir im Jahre 2017 gönnte. Allerdings nur, um das darauffolgende Jahr mit Sack und Pack nach Thüringen zurückzukehren. Denn der letzte Kloß war noch lange nicht gegessen. Mit etwas mehr Training in den Beinen konnte ich zumindest meine Bestzeit verbessern und näherte mich zumindest den, für mich, magischen 07:30:00 h. Spätestens an jenem Samstag im Mai nahm meine Obsession schließlich seinen Lauf und nach Sofortmeldung im Schmiedefelder Zielbereich, stand ich also heuer da: dem Schneewalzer lauschend, an der schönsten Startlinie der Welt - in Eisenach.

Ankomme Freitag, den 18.

Jedes Jahr auf's Neue findet man sich Freitag Nachmittag am Marktplatz Eisenach wieder, um endlich die langersehnte Startnummer in den Händen halten zu dürfen. Wer es sich außerdem zutraut, vor einem Wettkampf die Speicher mit Klößen und Rotkohl aufzufüllen, findet unter vielen Gleichgesinnten bestimmt noch ein Plätzchen im Festzelt oder unter freiem Thüringer Himmel. Ich für meinen Teil musste mich allerdings im letzten Jahr schon sehr zusammenreißen, nach extra großer Portion Rotkohl am Vortag, nicht schon auf den ersten Höhenmetern den Thüringer Wald zu besudeln. Seitdem jedenfalls erspare ich mir vor jedem längeren Lauf alles, was mir in irgendeiner Form auf den Magen schlagen könnte. 

So schnell, wie dieser Freitag auf unserem Radar erschienen ist, zieht er allerdings auch schon wieder ins Land. Es bleibt höchstens noch etwas Zeit am Ende des Tages übrig, um Vorbereitungen zu treffen, so stressfrei wie nur irgend möglich, in den nächsten Morgen zu starten. Die Nacht sollte nämlich schon kurz genug werden.

Morning has broken

Den großen Vorteil, den ich darin sehe, direkt im Startort zu nächtigen, ist die fußläufige Erreichbarkeit des Marktplatzes, von wo aus sich Samstag Morgen pünktlich um 6 Uhr fast 2.500 erfahrene Ultraläufer, genauso wie Ersttäter, auf den hügeligen Weg von Eisenach in das wohl schönste Ziel der Welt aufmachen - nach Schmiedefeld. Außerdem bieten einige Hotels auf Läufer abgestimmte Frühstückszeiten an, um nicht gleich mit schlechter Laune in den Tag starten zu müssen.  Mein Start in den Tag sah jedoch so aus, dass ich nach der ersten Nahrungsaufnahme bei dem Versuch, mit dem Fahrstuhl in unsere Etage zu gelangen, den Zimmerschlüssel fallen ließ und meine schlaftrunkenen Augen noch einen letzten Blick auf selbigen erhaschen konnten, bevor er sich in den ewig dunklen Fahrstuhlschacht verabschiedete. Für Ersatz war zwar in Sekundenschnelle gesorgt, mein Morgen aber war jetzt vorerst definitiv versaut. Vielleicht reißt es ja noch die Veranstaltung raus, für die ich eigens aus Berlin nach Thüringen gereist bin - der 47. Gutsmuths-Rennsteiglauf. 

"Oberschenkel Du brennen lassen musst, keine Zeit zu verlieren haben"

Wenn ein Hubschrauber über dem Marktplatz Eisenach seine Runden zieht, kann es eigentlich nur eines bedeuten: Das Warten hat ein Ende. Heute ist Renntag. 73,9 allerfeinste Kilometer über den Rennsteig vom schönen Eisenach nach Schmiedefeld. Das Rennsteiglied ertönt, denn wir wandern ja so gerne. Die Minuten verstreichen. 'Den Schnee-, Schnee-, Schnee-, Schneewalzer tanzen wir.' Es wird geschunkelt und noch einmal nervös an der Uhr gedreht. Ist es wirklich schon so spät? The final countdown und... LOS!

Nach meinen Erfahrungen aus den Jahren zuvor und den fehlenden Körnern zum Ende hin, musste ich mich dieses Jahr in jedem Falle neu erfinden. So konnte das nie und nimmer weitergehen, mit mir und dem Rennsteig. Denn ob am Ende eine persönliche Bestzeit herausspringt oder nicht, wird immer noch auf den ersten 25 Kilometern entschieden, bei dem man einen Höhenunterschied von 700 Metern bewältigen muss, was für einen Flachland-Berliner wie mich schon enorm ist. Deshalb sah meine Taktik schlicht und ergreifend vor, es vorerst einfach laufen zu lassen. Spannung halten beim Anstieg und locker beim Abstieg. Nur nichts riskieren. Als ich mein Rennen in mühevoller Heimarbeit plante, errechnete ich mir dabei die Splitzeiten für die Fabelzeit von rund 7 Stunden. Jetzt... dort draußen im Thüringer Wald schien meine Rechnung sogar aufzugehen. Die nächsten Verpflegungsstation kamen, die ersten Verpflegungsstationen gingen. Sobald man "Glasbachwiese" bei Kilometer 18 schließlich hinter sich gelassen hat, kann man sich, meines Erachtens, auf die schönste Teilstrecke des gesamten Rennsteiglaufs freuen. Denn nur kurze Zeit später findet man sich auf einem von Wurzelwerk gesäumten Pfad wieder, der nur so vor Trailspaß trotzt. Jedoch unter ständiger Beachtung der Trail-Weisheit eines gewissen Meister-Yoda: "Oberschenkel Du brennen lassen musst, keine Zeit zu verlieren haben!" 

Wer es es ohne Anzeichen von Selbstverstümmelung schließlich wieder aus dem dunklen Wald herausgeschafft hat und man noch nicht genug hat, darf sich jetzt wenigstens noch auf den langersehnten Aufstieg auf den 'Großen Inselsberg' freuen, der bereits sehnsüchtig darauf wartet, manch einen Läufer mit Übermut in seine Schranken zu weisen. Oben angekommen, mit noch ordentlich Fett uff der Kett, wartet der kurze, knackige Abstieg in Richtung 'Grenzwiese'. Für mich eines der Highlights der Verpflegungsstationen, da genau hier der erste Treffpunkt meiner Begleiter und mir entlang der Strecke war. Gut in der Zeit nahm ich mir allerdings auch selbige, um gut versorgt in die nächste Etappe Richtung 'Grenzadler' zu starten. 

Niemand hat die Absicht, mit Zeitmessung auszusteigen

Das zweite Drittel des Rennsteiglaufs war ich einfach versucht, mein Rennen zu laufen. Holte etwas Zeit heraus. Verlor wieder etwas Zeit. Ein ständiges Hin und Her. Ich könnte mir zwar jetzt etwas aus den Fingern saugen, aber sowas richtig spektakuläres blieb irgendwie aus. Gut, die Strecke war toll. Das Wetter hatte uns auch nicht enttäuscht. Achso, und die vielen Helfer waren ebenfalls nicht zu verachten. Aber sonst??? Eigentlich fiebert man ständig nur dem nächsten Etappenziel, dem Grenzadler, entgegen, der es einem ermöglicht, das Rennen bei Kilometer 54,7 mit Zeitmessung zu beenden und die weiße Fahne zu schwenken. Doch möchte man denn wirklich die frische, Thüringer Landluft gegen stickige, vom Schweiß geschwängerte Luft tauschen, die einen erwartet, wenn man  nach Abbruch den Kleinbus nach Schmiedefeld besteigt? No Way. 

Ich jedenfalls nutzte das Wiedersehen mit meinen Begleitern dazu, mich meines Oberteils zu entledigen (zur freudigen Anteilnahme der Thüringer Bevölkerung), die Speicher neu zu befüllen und all den unnötigen Ballast abzuwerfen, der mich die letzten knapp 55 Kilometer begleitet hat. Dann lasset die Spiele mal beginnen.

Die letzte Etappe war angebrochen. Keinen Halbmarathon mehr. Nur noch eine kleine unbedeutende Nummer namens 'Großer Beerberg' und die Lorbeeren können geerntet werden. Wenn man dann noch  auf die ersten Wanderer trifft, spätestens dann heißt es, Haltung annehmen und so tun, als ob die vergangenen knapp 60 km keinerlei Spuren hinterlassen haben. Das Problem ist nur, dass einem die wandernden Jungs und Mädels bis auf den letzten Kilometer kaum mehr von der Seite weichen. Es ändern sich allenfalls mal die Gesichter. Einfach freundlich grüßen, sich für die Anfeuerung bedanken und den Schmerz weglächeln. Und wenn ihr ganz leise seid, könnt ihr vielleicht sogar schon das Ziel hören, das sich irgendwo dort hinter der letzten Baumkrone befindet. Sobald man einen Fuß nach Schmiedefeld gesetzt hat, gilt es noch einmal, Obacht walten zu lassen, da sich von nun an die bereits erwähnten Wanderer, Spaziergänger, Läufer und solche, die es werden wollen, den letzten schmalen Pfad hinunter ins Ziel teilen müssen. Vorsicht ist da besser als Nachsicht. Und mit einem lauten Organ kann man sich immer noch am besten Gehör verschaffen.

Der finale Zieleinlauf wurde schließlich durch eine kleine Gruppe Pompon schwingender Cheerleader eingeläutet, die den Blick freigaben auf die letzten Meter Rennsteig-Gaudi. Sollte es das etwa schon gewesen sein? Mein Blick auf die Uhr besagte zwar an dieser Stelle das Verfehlen meines Zeitziels von sieben Stunden, doch eine eindeutige Verbesserung meiner persönlichen Bestzeit von sage und schreibe vierundzwanzig Minuten. Nach exakt 7 Stunden 7 Minuten und 57 Sekunden fand ich mich nach meiner ganz persönlichen 73,9 Kilometer langen Reise in Schmiedefeld wieder - im schönsten Ziel der Welt. Und ich habe wahrlich schon viele Ziele gesehen.

Kleine Raupe Nimmersatt

Die Medaille des 47. Rennsteiglaufs um den Hals, der Schweiß noch nicht ganz trocken, sah ich es als meine läuferische Pflicht an, von dem Angebot der Sofortmeldung im Zielbereich erneut Gebrauch zu machen. Denn noch ist die Zeit der Rennsteig-Rente nicht gekommen. Das geht noch besser. Oder schlechter. Egal, auf jeden Fall geht es noch einmal. Oder wie das Rödelheim Hartreim Projekt zu rappen pflegte: "Höha, schnella und weita."

Es war mir wieder mal ein Vergnügen, Teil dieser fantastisch organisierten Veranstaltung gewesen zu sein. Auch wenn ich es wieder einmal versäumt habe, etwas von Eurem über die Landesgrenze hinaus berühmten Schleims zu kosten. Doch glaubt mir bitte, wenn ich Euch sage, dass das wahrscheinlich besser für uns beide war.

Sodele... dann sag ich wohl mal bis nächstes Jahr. Das lässt sich jetzt nicht mehr vermeiden. Ob ihr wollt oder nicht. Irgendwann im Läuferleben muss eine Tradition schließlich ihren Lauf nehmen.







Dienstag, 12. März 2019

Der Regentanz von Tokyo!

A star was born

Seit Anbeginn meiner läuferischen Zeitrechnung hat für mich, aus welchen Gründen auch immer, das Bezwingen der sechs World Marathon Majors (Tokyo, Boston, London, Berlin, Chicago, New York City) massiv an Bedeutung gewonnen. Ist es das Bling-Bling, das man nach dem Erledigen des letzten verbliebenen Laufes sein eigen nennen kann? Sechs Medaillen in einem einzigen Kunstwerk vereint. Oder etwa die Reiselust, die zwingend damit einhergehen sollte, da nur zwei Läufe der Serie schließlich auf europäischen Boden stattfinden? Was mich und viele, viele andere dazu bewegt, die Laufserie zu bezwingen, werden wir jetzt nicht klären können, aber wir können darüber reden, wie nah ich meinem eigenen Ziel bisher gekommen bin.

Es begann im Jahre 2013, gerade zwei Jahre Nichtraucher und seitdem in Laufschuhen zu Hause, hatte man unglaublich, aber wahr, das letzte Mal die Möglichkeit, sich völlig regulär, ohne Tohuwabohu und nackt irgendeinen Auslosungstanz aufführend, für den BMW Berlin Marathon anzumelden. Und et vóila. Monsieur startete somit am 29. September 2013 das erste Mal über die 42,195 km lange Marathondistanz. A star was born. (Kenner des Fachs werden hoffentlich die Anspielung auf die Six Stars verstehen.)


Die Jahre kamen, die Jahre gingen. Und einige Berlin Marathons später fand ich mich Dank einer göttlichen Fügung im Jahre 2018 in Hopkinton im US-Bundesstaat Massachusetts wieder, um von dort meinen Weg in das 42 km entfernte Boston anzutreten. Ich weiß ja nicht, inwiefern ihr da im Bilde seid, aber an jenem Rennmontag im April hatten wir dort draußen mit den fiesesten Wetterbedingungen der letzten dreißig Jahre zu kämpfen. Denn der Regen kam von oben, ja sogar von unten, manchmal von rechts und manchmal von links. Nicht zu vergessen die 5° C, die uns mit mit einer knapp 20 Meilen steifen Brise ins Gesicht peitschten. Nah am Wasser gebaut bekam da sicherlich bei einigen Läufern eine ganz neue Bedeutung. Mit dem zweiten Stern in der Tasche trat ich schließlich irgendwann auch wieder die Heimreise an, wo mich eine gar vorzügliche Laufsaison erwarten sollte. Dazu vielleicht irgendwann einmal mehr. Für so etwas habe ich heute nämlich leider keine Zeit eingeplant.

Wie Franz Beckenbauer zu sagen pflegt: „Der dritte Stern ist der Wichtigste.“ Na gut, stammt wohl nicht von ihm, doch hätte nicht ganz unrecht gehabt, wenn er es so gesagt hätte. Doch was reden wir hier über andere, lasst uns mal lieber wieder über mich reden. Und über die Stadt, in der Willkommen wirklich noch groß geschrieben wird, Sushi kein modischer Trend ist und Autos auf der falschen Seite fahren. TOKYO!!!


Ein Trauerspiel von einer Expo


Odaiba! Eine künstlich angelegte Insel in der Bucht von Tokyo und Veranstaltungsort des Rahmenprogramms, das um den großen Hauptlauf am Sonntag stattfindet. Ich bin ja immer ein klein wenig aufgeregt, wenn es endlich in die heiße Phase geht und man schon langsam, aber sicher Marathonluft schnuppern kann. Diese leicht elektrisierende Stimmung, die allgegenwärtig zu sein scheint. So auch an jenem Donnerstag im Februar, Eröffnungstag der Expo des Tokyo Marathons. Jenem Lauf, der mir am darauffolgenden Wochenende meinen dritten Stern der World Marathon Majors bescheren sollte.

Bereits im Vorfeld hatte ich gelesen, dass die Expo in diesem Jahr, nicht wie üblich, im Convention Center stattfindet, sondern draußen. Im Freien. In Zelten und unter Pavillons. Wohlgemerkt reden wir hier über Ende Februar, wo sich das japanische Wetter selten von unserem hierzulande unterscheidet. Der Grund hierfür waren offensichtlich Umbauarbeiten, die notwendig sind, um das Messegelände im nächsten Jahr zu den olympischen Spielen, in neuen Glanz erstrahlen zu lassen. Und so wurde scheinbar aus der Not heraus die Idee der Open Air Expo geboren. Selbstverständlich konnte auch niemand damit rechnen, dass es am Tage der Eröffnung wie aus Kübeln gießen könnte. Wie auch?

Und dabei begann eigentlich alles ganz vielversprechend. Mit Bib Confirmation und Passport bewaffnet reihte man sich brav in die Reihe der Teilnehmer aus Übersee ein, wurde von den freundlichen Volunteers kurzerhand in ein kleines Gespräch verwickelt und ehe man sich versah, trug man das personalisierte Armband um sein Handgelenk, ohne das man weder in das nächste Zelt noch in den Startbereich am Sonntag durfte. Aus meiner Sicht betrachtet, folgte dann auch schon die aufregendste aller heiligen Hallen. Die der Startnummernausgabe. Dort wurde noch schnell ein fetziges Foto geschossen, das man zu keiner Zeit zu Gesicht bekam und das Resultat in schlechter Auflösung nur erahnen konnte, man aber schließlich (und darum ging es ja) alle wichtigen Unterlagen in den Händen hielt und das Prozedere im nächsten Zelt abgeschlossen wurde, indem man mehr oder weniger feierlich das Event Shirt in Empfang nehmen durfte. So oder so ähnlich sah auch schon das ganze Hexenwerk um die Startunterlagenausgabe aus. Unter ständiger Begleitung der freundlichsten, hilfsbereitesten und reizendsten Volunteers, die die Laufwelt jemals hervorgebracht hat. Wenn es etwas gibt, das ich immer Erinnerung behalten werde, dann sind das die Menschen, die die Veranstaltung zu eben genau dem gemacht haben, was es für uns war. Ob draußen auf Odaiba während der Expo und des Friendship Run oder des großen Hauptlaufs am Sonntag durch Japans Hauptstadt. Am liebsten hätte ich sie alle nach Origami-Art gefaltet, im Handgepäck verstaut und mit nach Hause genommen. Einfach knuffig.


Jetzt möchte ich aber noch einige wenige Worte zu einer Messe verlieren, die ihresgleichen sucht. Also, das war so: es gab wenige Aussteller, die für weitgereiste Marathonteilnehmer von Interesse gewesen wären (meist nur irgendwelche asiatischen Reiseveranstalter), flächenmäßig war sie zudem sehr überschaubar und die richtig fetzige Stimmung suchte man hier schließlich vergebens. Einzig der Stand des Hauptsponsors Asics schien vor keinem Lauftourist sicher zu sein. Gedränge hier, Geschiebe dort. Die Schlange vor der Kasse glich nach wenigen Minuten gar einer Polonäse über das Messegelände, ohne zu wissen, wo sie anfing oder gar endete. Wenn man die scheue Gattung der Läufer in ihrer natürlichen Umgebung beobachten wollte, dann wohl dort. Doch war Gefahr im Verzug, wenn man sich ungefragt dem Objekt der Begierde, der Event Jacket, näherte. Da wurden dann auch mal kurzerhand in einem kleinen Ellenbogenkampf die Fronten geklärt. Am Ende ging einer leer aus und der andere stellte fest, dass er die falsche Größe in den Händen hielt. Somit begann die Schlacht am kalten Büffet abermals von vorne. Alles in allem war mir die Enttäuschung über die Messe deutlich ins Gesicht geschrieben. Ich hätte nämlich nie damit gerechnet, dass ein Major Marathon sich, seine Partner und den Laufsport so unattraktiv präsentieren würde. Es gilt zu hoffen, dass es sich hierbei vielleicht nur um eine Momentaufnahme meinerseits gehandelt hat, das Wetter einfach auf die Stimmung drückte und nichtsdestotrotz das Convention Center im nächsten Jahr wieder zur Verfügung stehen wird. Satz mit x, das war wohl nix. Setzen, sechs!

Ein Lauf unter Freunden

Was bei uns in Berlin im Vorfeld des Marathons der Breakfast Run ist, ist in Tokyo der Friendship Run. Jetzt muss man natürlich überlegen, was einem wichtiger ist? Frühstück oder Freunde. Ich als Nüchternläufer entscheide mich dann lieber für letzteres. So sollte es also sein. Am Samstag Mittag überraschte uns der Wettergott zur Abwechslung auch mal mit den schönsten Sonnenstrahlen, dem blauesten Himmel und den angenehmsten Temperaturen, die wir in einer knappen Woche Tokyo genießen durften. 

Die Strecke führte uns vom Central Square auf Odaiba durch den Symbol Promenade Park bis zu einem vorher festgelegten Wende- und wieder zurück zum Ausgangspunkt. Völlig ohne Zeitmessung und optimal, um vor dem großen Tag noch einmal ganz entspannt die Beine auszuschütteln. Im Ziel angekommen, hatte man dann lockere 3,5 km absolviert und durfte sich im Anschluss in einem Spalier aus Helfern und Zuschauern noch einen kurzen Augenblick Ruhmsonnen, bevor es dann schnell zur mageren Hinterzielverpflegung mit CalorieMate ging. 

Im Gegensatz zum Berliner Pendant war der Lauf in Tokyo nicht kostenfrei, sondern schlug mit knapp 30 Euro zu Buche, die aber schon aufgrund der ausgelassenen Stimmung und der vielen Erlebnisse, die man mit nach Hause nehmen durfte, gut angelegt waren. Achso… und außerdem bekam man eines dieser feschen japanischen Tücher, die man sich entweder um den Kopf band und damit aussah wie ein Krieger in Funktionskleidung oder es schlicht und ergreifend als Erinnerung mit nach Hause nehmen und damit das heimische Wohnzimmer schmücken konnte. 

Das Rahmenprogramm auf Odaiba ausgekostet, stand jetzt also nur noch der Hauptlauf über die Marathondistanz vor der japanischen Hotelzimmertüre. Und der sollte noch die ein oder andere Überraschung für uns parat haben.

Der Regentanz von Tokyo



Der Blick in den morgendlichen japanischen Himmel ließ wahrlich nichts Gutes für den Marathon erahnen. Die Zeichen standen auf Regen. Zum Glück hatte ich noch daran gedacht, mir in einem der vielen 7Eleven, die überall in der Stadt zu finden sind, einen Regenponcho zu sichern, der einzig die Aufgabe besaß, mich zumindest bis zum Startschuss in trockene Sicherheit zu wiegen. Er sollte seinen Zweck auch voll und ganz erfüllen, wie sich später herausstellen sollte.

Die Anfahrt von der Unterkunft in Akasaka zum Startbereich hätte einfacher nicht sein können. Rein in die Bahn, kurzer Umstieg und schon fand man sich an der Endstation Marathon wieder. Oder für Freunde des öffentlichen Nahverkehrs - Shinjuku. Damit sich der Läufer von Welt sich mental nicht zu sehr anstrengen muss, dachten sich die Veranstalter, eine Horde Volunteers mit Hinweisschildern an allen prägnanten Stellen zu positionieren, um den Läufern sicher den Weg zu einem der fünf Zugänge zum Athletendorf zu weisen. Hat funktioniert und ließ mir sogar noch Zeit, mein mitgebrachtes Sportgesöff runterzuspülen, da es laut Handbuch Getränkeregeln gab, die auf meine leider so ganz und gar nicht zutrafen. Um sieben Uhr öffneten sie schließlich die Pforten, und für 09:10 Uhr war der Start angesetzt. Dazwischen verging die Zeit, wiedererwartend wie im Fluge. Kurze Orientierung und in die wettergeschützte Umkleide zurückgezogen, Entscheidung auf kurzes Laufdress gefallen. Alles was ich nicht brauchte in meinem Beutel zurückgelassen. Mit transparenten Regenponcho über meinem knappen Outfit (außerhalb von Laufveranstaltungen würde man für diesen Anblick wahrscheinlich in den Knast kommen) auf die Suche nach meinem baggage truck gemacht. Alles erledigt und ab in Richtung meines Blocks. Entspannte Dixie-Situation. Noch etwas Pocari Sweat verköstigt, das offizielle Haus- und Hofgetränk des Tokyo Marathons, einfach nur, weil’s geil schmeckt. Jetzt war es aber an der Zeit, Stellung im Startblock B zu beziehen. Denn wer nicht kommt zur rechten Zeit, der wird schon sehen, wer im letzten Startblock bleibt. So sind nun einmal die Regeln. Um 08:45 Uhr werden die Zugänge zu den eigentlichen Startblöcken geschlossen und wer bis dann seinen Weg nicht dorthin gefunden hat, muss sich ganz ans Ende einreihen. Und jeder nur ein Kreuz.

Ein bißchen Sing-Sang hier, einen Erdbeben-Sicherheitshinweis dort (für den Fall der Fälle) und ganz viel Regen von oben. So standen wir also da und konnten es kaum erwarten bis der Hammer fallen und sich die träge Masse der Läufer in Bewegung setzen würde. 

Überpünktlich um 09:10 Uhr fiel dann auch für alle Beteiligten der erlösende Startschuss. Eine wahre Wohltat, sich endlich bewegen zu dürfen. Man spürte das Leben in die Beine zurückkehren. Es dauerte zwar einige Zeit, bis ich so richtig in meinem Element war, aber die Auswertung nach dem Rennen hat ergeben, dass meine 5 km-Splitzeiten vom Anfang bis zum Ende nahezu identisch waren. Keine schnellere zweite Hälfte, doch bei den Wetterbedingungen zumindest froh darüber, den Weg ins Ziel gefunden zu haben. Denn ich habe gehört, dass das nicht gerade alle von sich behaupten können. 

Etwas, das den Tokyo Marathon übrigens ebenfalls von anderen Majors unterscheidet, ist die Tatsache, dass neben der überaus begehrten Marathonstrecke zusätzlich noch ein 10 km Lauf angeboten wird. Für alle, die sich mit nur einem Viertel des Feelings zufrieden geben wollen. Genau diese zehn Kilometer waren es aber auch, die für mich die aufregendsten des ganzen Rennens waren. Denn ab dem Moment, als die Läufer der „Kurzstrecke“ von der Straße waren, kam mir der Kurs zäh wie Kaugummi vor. Hat es vielleicht daran gelegen, dass man auf der anderen Straßenseite entgegenkommend die deutlich vor einem liegenden Läufer dabei beobachten konnte, wie sie sich das Rennen ihres Lebens lieferten? Mit dem ständigen Gedanken daran, wie lange es wohl noch dauern würde, bis man selbst dort drüben ankommen würde? Eine zähe Gerade, Kehrtwende und zurück. Hier noch um die nächste Ecke, Kehrtwende und zurück. Und so weiter und so fort. Ständig die vor einem liegenden Läufer im Gegenverkehr im Blick. Wahrlich nicht mein favorisierter Marathonkurs, doch wie war das noch mit dem olympischen Gedanken? Dabei sein ist alles.

Und ja, ich war dabei. Habe trotz des Wetters, das scheinbar einfach nicht besser werden wollte, meine Teilnahme genossen. Habe außerdem noch nie einen solch sauberen Wettkampf erlebt. Entlang der Strecke standen sich im strömenden Regen Volunteers, mit Plastiktüten bewaffnet, die Beine in den Bauch, um den Teilnehmern eine ständige Möglichkeit der Müllentsorgung zu bieten. Sollte man irgendwann einmal den Drang verspürt haben, seine Notdurft zu verrichten, musste man sich nur an die ständig wiederkehrenden Hinweisschilder halten. Dass die Toiletten zwar häufig mehrere hundert Meter entfernt und damit fernab der Strecke waren, sei jetzt mal dahingestellt. Wer das eine will, muss das andere eben mögen. Ansonsten, wie bereits erwähnt, konzentrierte man sich einfach darauf, seine Pace beizubehalten, dem Wetter zu trotzen und den Zuschauern das Gefühl zu geben, dass man sich zur Stunde nichts Schöneres vorstellen könne, als durch Tokyos Straßen zu rennen. 

Noch zwei Kilometer bis zum dritten Stern


So wenige Kilometer vor dem Ziel versucht man, seinen von Kälte durchzogenen Kadaver langsam aber sicher wieder ein wenig aufzurichten, um beim Zieleinlauf vor dem Kaiserpalast eine akzeptable Figur abzugeben. Und die letzten Meter sind wahrscheinlich auch die Gründe, weshalb ich immer wieder zum Tokyo Marathon zurückkehren würde. Denn über 42 km hat man versucht, uns dort draußen in die Knie oder gar zur Aufgabe zu zwingen. Bei dem ein oder auch anderen hat es vielleicht funktioniert, doch wer einmal von Hopkinton nach Boston geschwommen ist, bei dem müsst ihr Euch schon was anderes einfallen lassen. Da reicht ein bisschen Regen schon lange nicht mehr aus. War aber ein netter Versuch. Unglaublich aber wahr: der Stolz ist um einiges größer, bei solch einem miesen Wetter die Ziellinie überquert zu haben. Denn niemand würde ein Sterbenswörtchen über dieses erste Märzwochenende verlieren, wenn die Bedingungen optimal gewesen wären. So bietet der Marathon auch danach noch genug Futter für Diskussionen. Was wäre wenn? Leidensgenossen tritt man anders gegenüber, weil man einfach weiß, dass wir dort draußen, auf Tokyos Straßen, alle in einem Boot saßen. Nur fuhr der eine eben schneller und der andere langsamer. Die Mission jedenfalls ist erfüllt. Mit der Medaille halte ich zudem die Bestätigung in den Händen, meinen dritten Majors-Stern eingesammelt zu haben. Halbzeit! Mit einer Zeit von 03:17:XX h ganz knapp sogar noch meine zweitbeste Marathonzeit eingesackt. Darauf kann man ganz klar aufbauen. Jetzt gilt es aber, so schnell wie möglich zu regenerieren, damit ich am 28. April 2019 beim Virgin London Marathon endlich eine neue Bestzeit über die 42,195 km aufstellen kann. Und sollte der britische Wettergott nur ein klein wenig was für Läufer übrig haben, dann wird es ein trockenes, sonniges Läuferfest, das seinesgleichen sucht. Die Bestzeiten werden nur so purzeln. Doch für alle Fälle bin ich wahrscheinlich der mit dem Regenponcho unter dem Arm.
Tokyo hat zwar nicht gerade den spannendsten Marathonkurs zu bieten, doch wird mir das Erlebnis, vor dem Government Bildung an der Startlinie gestanden zu haben, Tokyos Straßen gelaufen zu sein und der feuchtfröhliche Zieleinlauf, ewig in Erinnerung bleiben. Keinesfalls zu vergessen die vielen, vielen freundlichen Helfer, die trotz des Wetters immer ein Lächeln im Gesicht trugen und der Hauptgrund dafür waren, dass man den Regen einfach, wie in Japan üblich, wegzulächeln versuchte. Schien zwar nicht so richtig funktioniert zu haben, aber wir üben ja auch noch. Die Stadt und die Menschen haben mir so viel gegeben, dass es schon in Ordnung geht, meine Kraftreserven auf der Strecke zurückgelassen zu haben. Es war alles gut, so wie es war und wenn ich denn darf, würde ich sehr gerne noch einmal den Weg zurückfinden - zum Marathon durch Tokyos Straßen. Sayônara!!!



P. S.:
Leider, und das haben die Japaner so gar nicht verdient, gab es im Anschluss an den Tokyo Marathon Diskussionen über das strikte Einhalten der Cut-Off-Zeit seitens des Veranstalters, die bei sieben Stunden lag. Doch jetzt Glotzen uff und janz kurz uffjepasst: Pistole macht Peng! - Zeit läuft. Du ganz hinten im Starterfeld - Pech für die Kuh Elsa, Zeit läuft davon. Übrigens in dem Runners Handbook ganz klar kommuniziert. Keine Diskussion. Wer sich außerdem die Zeit nimmt, während des Rennens bis zu einer halben Stunde vor einem Dixie Klo zu warten, bis man endlich an der Reihe ist, dem ist dann leider auch nicht mehr zu helfen. Sich abschließend noch darüber echauffieren, wenn einem ein freundlicher Japaner auf die Schulter klopft, der dich gerade aus dem Rennen nimmt. Unverständlich. Kleiner Tipp am Rande: trainieren, trainieren, trainieren und mein ganz persönlicher Dixie Klo Tipp… einfach laufen lassen. In diesem Sinne… 



Sonntag, 26. August 2018

Niemand hat die Absicht, einen Staffelsieg zu feiern!

Der Titel, den ich für den vorliegenden Rennbericht der 100 Meilen Berlin gewählt habe, mag vielleicht für Außenstehende ein klein wenig verstörend wirken, denn irgendwie möchte man im Wettkampf ja schließlich immer gewinnen. So auch wir. Doch Traum und Wirklichkeit liegen oft so weit auseinander, dass man sich am Ende einfach die Kraft spart und daran erst gar keinen Gedanken verschwendet. Außerdem haben mein Staffelpartner Arnaud und ich im Vorfeld kein einziges Mal gemeinsam trainiert und wussten quasi nichts über den Leistungsstand des jeweils anderen. Unser letztes physisches Treffen lag zudem fast drei Jahre zurück. Wenn es Klärungsbedarf zur Orga oder zum Rennen selbst gab, traf man sich eben per Videochat. Ging auch.

Bevor ich aber gleich ins Rennen einsteige, muss ich offensichtlich erst einmal etwas weiter ausholen. Denn meine Geschichte zu den alljährlich stattfindenden 100 Meilen begann bereits im Jahre 2015, in dem Jahr, in dem ich mir vorgenommen hatte, in jedem Monat mindestens über die Marathondistanz zu starten. Um es kurz zu machen: Am Ende zählte ich vierzehn Wettkämpfe (neben all den kürzeren Distanzen), darunter einen 50K unter der brennenden Sonne Floridas, meiner ersten Teilnahme am Supermarathon von Eisenach nach Schmiedefeld am Rennsteig und eben diesem historischen Lauf entlang der ehemaligen Mauer in und um Berlin. Mit dem Unterschied, dass wir damals eine 4er-Staffel auf die Beine stellten und ich das Vergnügen besaß bzw. mich geradezu aufgedrängt hatte, doch bitte die letzte Etappe über 58 km laufen zu dürfen. Mein Wunsch wurde erhört, übernahm am Renntag am Sportplatz Teltow an zweiter Stelle liegend den imaginären Staffelstab, konnte den Platz dann doch noch weitere 30 km behaupten, ließ dann ein paar Federn auf der Strecke, wurde überholt und landeten mit unserer Staffel am Ende zum Glück noch auf dem letzten Treppchenplatz. Wir blieben also gerade noch so von der achso undankbaren Holzmedaille verschont. Und meine Reise ging weiter!

Im darauffolgenden Jahr entschied ich mich mit meiner Frau dazu, als Helfer am VP Frohnau zu fungieren. Wir haben uns die Nacht um die Ohren geschlagen, um auch die allerletzten Läufer energiegeladen immer weiter Richtung Ziel oder einfach zum nächsten Verpflegungspunkt zu entsenden. Oft hat es funktioniert, manchmal aber war traurigerweise genau dort für den ein oder anderen Endstation und der innere Schweinehund schien, gesiegt zu haben. So spielt nun einmal das Läuferleben und spätestens dort wuchs in mir die Sehnsucht nach längeren Distanzen. Denn dieses Gefühl wollte ich auch haben.


Der beste Einstieg in die Ultralauf-Szene, so dachte ich mir zumindest, würde mir gelingen, wenn ich erst einmal kleinere Brötchen backen und eine 2er-Staffel organisieren würde, in der ich die Aufgabe übernehme, die Strecke über knapp 91 km zu bewältigen. Dann musste ich nur noch jemanden finden, dem ich die weiteren 70 km bis ins Ziel auf’s Auge drücken konnte. Doch dies war leichter gesagt als getan. Meine erste Wahl hatte nämlich früh im Jahr mit Verletzungssorgen und einigen anderen, eher privateren Problemen zu kämpfen. Diese Situation forderte dann von mir, als
Staffelkapitän sozusagen, meiner Fürsorgepflicht nachzukommen und konnte keinesfalls das Risiko eingehen, die Gesundheit eines nicht ausreichend trainierten Sportlers zu riskieren. Da war plötzlich und unerwartet also wieder ein Platz in der 'Lauf Junge Lauf‘-Staffel frei. Das Suchen begann mal wieder von vorne.

Da kommt auch schon Arnaud ins Spiel. Arnaud hatte bereits viel früher als ich seinen Weg ins Ultralaufen gefunden, mit Finish beim Marathon des Sables sowie dem peruanischen Pendant, um zumindest kurz die bekanntesten zu nennen. Achso, und sammelt weiter fleißig Punkte (und Kilometer), um eines Tages für den UTMB zugelassen zu werden. Deshalb wusste ich zumindest, dass das Bewältigen der Distanz für ihn nie zum Problem werden wird. Nach wenigen Tagen Bedenkzeit war meine Staffel also wieder komplettiert und der Tag des Rennens konnte kommen.

Die Generalprobe am Vortag


© Photo by Monique Wüstenhagen
Als mein Staffelpartner letztlich in Berlin landete und ich ihn freudig am Gate empfing, hatte er, wahrscheinlich, um mein Nervenkostüm noch einmal auf die Probe zu stellen, gleich eine böse Überraschung parat. Offensichtlich schien er sich nämlich nur wenige Stunden vorher den Rücken verknackst zu haben und hing schließlich vor mir wie ein Schluck Wasser in der Kurve. War unser Rennen etwa bereits vorbei, bevor überhaupt der Startschuss gefallen war? Da war mal wieder schnelle Reaktion gefordert. Anruf bei meiner Physiotherapeutin Judtih, die mir persönlich bereits schon einige Male aus der Patsche helfen musste und es von mir gewohnt war, den ein oder anderen Brand so kurz vor einem bevorstehenden Wettkampf löschen zu müssen. Wie eben auch dieses Mal.

© Photo by Monique Wüstenhagen
So begab sich Arnaud also in die beste physiotherapeutische Behandlung und ich konnte einfach nicht länger warten und machte mich in Zeitnot durch die halbe Stadt auf zur Startunterlagenabholung und dem anschließenden Briefing im H4 Hotel am Alexanderplatz. Beinahe wären die Staffeln am nächsten Tag also ganz ohne uns gestartet. Das wäre wahrlich ein Jammer gewesen. Nicht nur für uns, mit Sicherheit auch für alle anderen Teilnehmer.
Nachdem ich also kurz vor dem Ende der Abholfrist unsere Startnummer in den Händen halten durfte (ganz nebenbei auch noch die tollste, die man sich vorstellen kann - Startnummer 2018), ich den Weg zum Briefing fand, trudelte pünktlich mit der Eröffnungsrede dann auch endlich mein Staffelpartner ein, zwar immer noch sichtlich gehandicapt, doch endlich war das Team Lauf Junge Lauf komplettiert. Es wächst also immer noch zusammen, was zusammen gehört. Das sollte sich am nächsten Tag, dem Tag des Rennens, noch einmal bestätigen.

Das Rennen 


Als die Einzelläufer bereits seit knapp einer Stunde unterwegs waren, tummelten sich im Friedrich-Ludwig-Jahn Sportpark in Prenzlauer Berg noch alle verbliebenen Staffelläufer. Selten habe ich kurz vor einem Start eine solch gelöste und entspannte Stimmung erlebt. Man hätte beinahe glauben können, dass es um nichts ging. Für mich leider zu entspannt, denn als endlich der Startschuss um sieben Uhr fiel, war ich gerade mitten in ein Gespräch vertieft und verpasste das ‚Peng‘ oder ‚Pow‘ oder wie es auch immer gemacht hat. Könnte mich vielleicht jemand aufklären, ob es überhaupt ein ‚Krach-Bumm-Beng‘ gab, als die Staffeln auf ihre Reise geschickt wurden? Denn offensichtlich litt ich an einer kurzzeitigen Konzentrationsschwäche und konnte gerade noch schnell meinen Zeitmesser starten und den schlaftrunkenen Kadaver über die befreiende Startlinie hieven.

Von diesem Moment an aber war der Läufer in mir wachgerüttelt; meine Muskeln und Knochen erinnerten sich daran, dass ihnen der Bewegungsablauf in irgendeiner Form bekannt vorkam. Von Müdigkeit plötzlich keine Spur mehr. Selbst die Tartanbahn unter meinen Füßen fühlte sich so vertraut an. Ich hatte ein verdammt gutes Gefühl für den Tag.

Die größte Herausforderung sah ich, im Vorfeld betrachtet, nicht in der Distanz (denn das Ankommen stellte ich eigentlich nie in Frage), sondern in den Ampelphasen, die uns schließlich die ersten 18 km permanent begleiteten. Erst auf die Ampel sehen, dann über die Straße gehen. So das Motto. Wenn man das einmal vergaß, halfen einem die eigens hierfür abgestellten Ampelmännchen und -frauchen (wenn ich sie denn so nennen darf) gerne, sich dies noch einmal ins Gedächtnis zu rufen. Die Regeln waren klar und fair für alle. Bei Rot hat man verdammt nochmal stehenzubleiben. Dass es immer wieder pfiffige Mitläufer gibt, die sich für Regeln so gar nicht interessieren; damit muss man am Ende des Lauftages wohl leben. Und diese wiederum mit den Konsequenzen.

Nur kurze Zeit, nachdem wir allesamt das Stadion im Prenzl’berg verlassen und sich die Führungsfahrzeuge der Kolonne  angeschlossen hatten, begann die viel gefürchtete und soeben erwähnte Rot-Grün-Phase. Selbst auf die Gefahr des Verzockens hin, hatte ich mir bereits zu Hause in meinem stillen Kämmerchen die Taktik der kurzen, knackigen Zwischensprints überlegt, um mir das Leben von Beginn an etwas zu erleichtern und die ersehnte grüne Welle zu erzwingen. Ganz konnte ich dem Übel zwar nicht aus dem Weg gehen, doch kurz nachdem ich die britische Botschaft passiert hatte und den Blick über meine Schulter hinweg schweifen ließ, bemerkte ich teils erschrocken, aber auch ein wenig zufrieden, dass weit und breit kein Verfolger auszumachen war. Nur ich, mein Führungsfahrzeug und zwei Jungs, von einer Vierer-Staffel und einer 10+ Staffel. Wie das Leben nun einmal so spielt und sich in einer lockeren Konversation herausstellte, war der junge Mann der 4er Staffel im Jahre 2015 dafür verantwortlich, dass wir am Ende nicht auf dem zweiten sondern dem dritten Platz landeten. Noch überraschter war ich, dass er mich sogar namentlich in Erinnerung behielt. Das schien ihn die letzten Jahre wohl schwer beschäftigt zu haben. Heute jedoch liefen wir nicht gegeneinander, sondern miteinander. Denn gemeinsam ist man bekanntlich weniger allein.

Eine tolle Aktion, so fand ich zumindest, war die Öffnung des Asisi Panorama am Checkpoint Charlie für die Teilnehmer der 100 Meilen Berlin. Oft vorbeigeschlendert und auf der imaginären Berlin-To-Do-Liste geführt, kann ich jetzt den Haken setzen und die Mission als erfüllt betrachten. Auch wenn die kleine Runde durch das Gebäude schneller vorbei war, als dass man Mr. Gorbatschow sagen konnte, fügte es sich perfekt in die Strecke des Mauerweglaufs 2018 ein. Ich jedenfalls war begeistert und diese kleine Abwechslung ließ zumindest für einen kurzen Augenblick den Gedanken verschwinden, dass man noch nicht einmal ein Viertel des Laufes hinter sich gebracht hatte.


Ganz froh war ich, nach einigen Kilometern über Kreuzberg Richtung Treptow die Stadt verlassen zu dürfen und die Laufschuhe einfach nur abrollen zu lassen. Emotional wurde es jedoch am Denkmal des jüngsten Maueropfers, in dessen Gedenken der Lauf dieses Jahr stattfand. Jörg Hartmann, damals im Jahre 1966 zehn Jahre alt, war mit seinem 13-jährigen Freund Lothar Schleusener offensichtlich im Begriff, über das Grenzgebiet in Treptow in den Westen zu seinem Vater zu gelangen. Tragischerweise eröffneten Grenzbeamte das Feuer und töteten die beiden Jungen mit gezielten Schüssen. Die Organisatoren des Rennens baten deshalb alle Teilnehmer darum, Spielzeuge zu spenden und sich in Treptow die Zeit zu nehmen, es am Denkmal niederzulegen. Eine tolle Geste und schön zu sehen, dass so viele Läufer an dieser Aktion teilgenommen haben.

Trotz all der Tragik dahinter, muss man irgendwann jedoch wieder zurück in das Rennen finden. Denn von diesem Moment an konnte man sich voll und ganz auf den Laufsport, wegen dem wir alle hier waren, konzentrieren. Die Strecke war flach, Straßenüberquerungen wurden deutlich weniger und die Sonne hielt sich auch noch ganz gut hinter einer Wolkendecke versteckt. Einer der nächsten Höhepunkte auf der Strecke erwartete mich aber schon bald bei Kilometer 34,4. Der Dörferblick mit einer Höhe von gut 70 Metern. Ein toller Moment, um noch einmal die Beine zu spüren und sie auf die nächsten 66 Kilometer vorzubereiten.

Leider tat ich mir aber wohl keinen Gefallen damit, den kleinen Trümmerberg im zügigen Laufschritt zu erklimmen. Denn nur wenige Kilometer später musste ich mit Bedauern feststellen, dass meine Oberschenkel zugemacht hatten. Aber irgendwie war immer noch zuviel Strecke am Ende des bisher zurückgelegten Weges. Jetzt bloß nicht einknicken, dafür lief es bisher einfach zu gut. Außerdem dachte ich natürlich an meinen Staffelpartner, der bereits am Schloss Sacrow auf mich wartete, mich ständig per Live Tracking verfolgte und mit Erschrecken feststellte, dass ich, wenn es denn so weiterlief, an unserem Wechselpunkt als führende 2er-Staffel übergeben würde. Ganz so weit war es zwar noch nicht, aber eben auch nicht ganz abwegig. Trotz meines kleinen Gebrechens, das ich nun von Zeit zu Zeit mit Wasser zu kühlen versuchte, schlug ich mich noch immer tapfer, ohne auch nur eine Ahnung zu haben, wie es hinter mir aussah. Wo lauerten nur die Verfolger? Mein Begleiter auf dem Führungsfahrrad wollte sich spätestens am Sportplatz Teltow etwas zurückfallen lassen, um die Lage zu sondieren. Teltow, muss man wissen, ist nämlich die erste Drop-Bag Station und aufgrund der Tatsache, dass man zur Verpflegung in eine kleine Sporthalle einläuft, fällt es einem aufgrund der Gemütlichkeit im Kreise vieler Gleichgesinnten umso schwerer, den Weg wieder nach draußen zu
finden. Deshalb hieß es nur kurz, meine Laufweste aus meinem Drop-Bag neu zu beladen, Wasser aufzufüllen und bloß nicht in den Ruhemodus zu wechseln. Das war im Übrigen bei allen Verpflegungspunkten davor und auch danach ein Teil meiner Renntaktik. Allerdings war ich auch extrem günstig in der Haltung, denn ich wollte kein Risiko eingehen und versorgte mich über 91 km mit Gels, Riegeln und ausreichend getestetem Sportgetränk nahezu selbst. Nur als Wasserquellen waren die Versorgungspunkte mein rettendes Ufer. Doch ansonsten: was der Läufer nicht kennt, das frisst er nicht!


Irgendwann begann ich aus purer Langeweile die noch vor mir liegenden Kilometer in Etappen zu den nächsten VPs aufzubröseln. Noch sechs, fünf, vier, drei, zwei, ein Kilometer. Und das ganze wieder von vorne. Irgendwie musste man sich schließlich die Zeit unterwegs vertreiben. Sobald ich aber die Havel über die Glienicker Brücke passiert hatte, schien mein Ziel in greifbarer Nähe zu sein. Eigentlich musste ich einfach nur einen Fuß vor den anderen setzen. Das war auch schon das ganze Hexenwerk. Eine unerträgliche Aufregung stieg schließlich in mir auf, als sich der Wechselpunkt, das Schloss Sacrow, bereits in Sichtweite befand und ich kaum glauben konnte, dass mein Lauftag in wenigen Minuten vorbei sein wird und ich, egal wie die weiteren 70 km laufen würden, zumindest einen Etappensieg erzielen werde. Unglaublich, aber wahr.

Dann ging plötzlich alles ganz schnell. So wenig Zeit, wie ich zuvor an den Verpflegungspunkten zubrachte, benötigten Arnaud und ich schließlich zur Übergabe des unsichtbaren Staffelstabs. Kurz und knackig empfing ich meinen Drop-Bag und nur kurze Zeit später war ich von der Strecke runter und Arnaud unterwegs, um unsere Führung zu verteidigen. Die Daumen waren gedrückt.

Weitere siebzig Kilometer zittern


Leider kann ich über die siebzig Kilometer bis ins Ziel nicht gerade viel erzählen, habe mir aber sagen lassen, dass sie toll und Arnauds Schmerzen quasi gar nicht vorhanden waren. Außerdem weiß ich aus einer sicheren Quelle, dass er etwas Panik mit auf die Strecke nahm, weil er die Führung von mir übernahm und mich nicht enttäuschen wollte. Im Grunde war ich aber einfach nur glücklich darüber, ein tolles Team gebildet zu haben und der Erfolg auf meinen 91 Kilometern schien dabei eigentlich nur mein persönliches Betthupferl zu sein. Die Belohnung für monatelange harte Abrackerei auf der Straße, der Bahn oder wo auch immer ich gerade Lust hatte, mir die Beine zu vertreten. Doch von nun an war es an mir, über die Funktion des Live Trackings die ‚Lauf Junge Lauf‘-Staffel auf ihrem Weg ins Ziel zu verfolgen. Siebzig Kilometer können, wenn man warten muss, verdammt lange werden. Dann noch diese Nervosität beim ständigen Aktualisieren der Zwischenergebnisse. Unglaublich! Ich wusste in dieser Zeit nichts, aber auch rein gar nichts, mit mir anzufangen. Ich schlenderte von hier nach dort und wieder zurück. Dann brach die Dunkelheit über Berlin herein und Arnaud hatte die Führung immer noch behauptet. Dann passierte er den Kontrollpunkt 26, während die anderen Staffeln noch weit zurücklagen. Es hätte wirklich viel passieren müssen, um einen Vorsprung von über zwanzig Minuten noch zu verlieren. Der Sieg war unser. Obwohl er noch nicht einmal in Sichtweite war, konnte ich Stolz auf unsere gemeinsam erbrachte Leistung sein, mit der niemand, am wenigsten wir, rechnen konnten. Es gab im Vorfeld so viel Chaos, mit dem wir beide erst einmal zurechtkommen mussten, dass wir uns schlichtweg schon über das Erreichen des Ziels hätten freuen können.

Ende gut, alles gut


So ganz genau wusste ich zwar nicht, wo er sich befand, nur eben, dass er ganz in der Nähe sein musste. Dann tauchte vor mir plötzlich aus der Dunkelheit unser Begleiter auf dem Führungsfahrrad auf. Nur wenige Meter dahinter folgte… Arnaud! Das gemeinsame Einlaufen auf der Tartanbahn im Friedrich-Ludwig-Jahn-Sportpark konnte ich mir trotz des Muskelkaters meines Lebens nicht nehmen lassen. Dort, wo ich mich morgens um sieben Uhr in Bewegung gesetzt hatte, durften wir exakt 15 Stunden 13 Minuten und 59 Sekunden später den 2er-Staffelsieg des ‚Team Lauf Junge Lauf‘ feiern. Was für ein Tag! Wir werden unseren Buddy Bear in Ehren halten und in meinem Gesicht macht sich noch heute ein breites Grinsen breit, wenn ich an diesen besonderen Samstag im August zurückdenke.

Titelverteidigung im nächsten Jahr? Da muss ich doch dankend ablehnen, denn ab demnächst heißt es, größere Brötchen zu backen und die vollen 100 Meilen zu bewältigen. Man gönnt sich ja sonst nichts. Außerdem kann ich mir nicht vorstellen, dass dieses Erlebnis auf der gleichen Strecke noch einmal zu toppen ist. Doch bevor ich zu viele Pläne für das nächste Jahr schmiede, möchte ich den Sieg einfach noch ein wenig genießen und zum Abschluss an so viele Menschen ein Dankeschön loswerden.

Da wären nämlich die vielen Helfer entlang der Strecke, die ihre wertvolle Freizeit dafür geopfert haben, uns Läufer mit allem was das Herz begehrt, zu versorgen. Die Organisatoren leisteten zudem ganze Arbeit, das Rennen so reibungslos wie möglich ablaufen zu lassen. Es war uns eine Freude, Teil der 100 Meilen Berlin gewesen zu sein. Außerdem müssen wir uns noch bei allen anderen Teilnehmern bedanken, für den ein oder anderen Wortwechsel unterwegs und der entspanntesten Stimmung, die ich je erleben durfte. Vielleicht ward ihr aber auch einfach müde. Wer weiß? Und ganz besonderen Dank für das Stillhalten während des Siegerehrungs-Selfie. Ihr seid dufte. Von meiner Seite noch einen großen Dank an den besten Staffelpartner, den man sich nur wünschen kann und dafür, dass er den Buddy Bear nach Hause geholt hat. Siehste, war doch gar nicht so schlimm. Unserem Fahrradbegleiter für die ständige Motivation und dafür, unterwegs immer mal ein paar Kilometer zu unterschlagen, wenn es um die Frage ging, wie weit es noch bis zum nächsten VP sei. Wir kamen schließlich trotzdem an, doch meine GPS-Uhr lügt nie. Last but not least darf ich auf keinen Fall Annett vergessen, meine Frau, die mir jedes Mal in der wertvollen Trainingszeit den Rücken freihält und bei jedem Wettkampf beinahe aufgeregter ist, als ich es bin. Leider konnte sie in diesem Jahr nur beim Start mit dabei sein, da sie zur gleichen Zeit ihr Ehrenamt bei der Leichtathletik EM ausübte. Doch dafür erfuhr auch jeder medizinische Helfer im Berliner Olympiastadion, ob er es wissen wollte oder nicht, von unserem Staffelglück. Das nenne ich ausgleichende Gerechtigkeit.


Die 100 Meilen Berlin stehen schon lange auf meiner Bucket List und habe, denke ich, einen guten Einstieg gefunden, um im nächsten Jahr endlich die volle Distanz anzugehen. Denn wie bereits die New Kids On The Block angemerkt haben: Step by step! Ich bitte aber um Verständnis, dass ich auch ganze zwei Wochen nach diesem Erfolg, mich noch etwas Ruhmsonnen werde, um mir meinen Siegerteint noch etwas zu erhalten. Start-Ziel-Sieg. Es hätte nicht besser laufen können. Solltet ihr also im Friedrichshain bald mal einem Läufer begegnen, dessen Laufstil einem Pfauen gleicht, dann könnte das der Sieger der 2er-Staffeln bei den 100 Meilen Berlin gewesen sein. In diesem Sinne, allen ein schönes Wochenende und Sport frei! Und entschuldigt bitte, dass mein Bericht so in die Länge gezogen wurde. Das ließ sich leider nicht vermeiden.

Das war ja wohl der Gipfel!

Den Anfang machte, soweit sich mein sauerstoffgeschwängertes Gehirn noch daran entsinnen kann, einer dieser seltenen Instagram-Momente. War ...